Die Bezeichnung „Green Man“

Als plastisches Element aus Stein oder Holz sind sie in Kirchen vor allem im westlichen Europa anzutreffen: Gesichter, die mit Blättern verwachsen sind (Abb. 1), denen Pflanzen aus Mund, Nase oder Augen sprossen (Abb. 2) oder die ganz aus Pflanzenteilen gebildet sind (Abb. 3). Im architektur- und kunstgeschichtlichen Zusammenhang ist dafür der Ausdruck „Blattmaske“ geläufig. In Großbritannien wurden diese Pflanzengesichter unter der Bezeichnung „Green Man“ bekannt, die inzwischen auch im Deutschen so oder als „Grüner Mann“ verbreitet ist, obwohl durchaus nicht immer Männer, sondern z. B. auch Dämonen, Katzen und Löwen dargestellt werden (Abb. 4) und die Gesichter heute nur noch in den seltensten Fällen grün sind (Abb. 5).

1939 prägte Lady Julia Raglan in ihrem Aufsatz „The ‚Green Man‘ in Church Architecture“ den Ausdruck: „It seemed to me certain that it was a man ... and moreover that it was a ‚Green Man‘. So I named it“. Nicht alle Blattmasken, aber manche, speziell mit Eichenlaub verzierte, wären so ausdrucksvoll, dass es sich nur um Portraits der zentralen Kultfigur heidnischer Frühlingsopfer und Maifeiern handeln könnte, bekannt als „Green Man, Jack-in-the-Green, Robin Hood, the King of May, and the Garland“.

Ein heidnisches Relikt?

Anknüpfend an Lady Raglans Aufsatz, der im Journal „Folklore“ erschienen war, verbreitete sich die These, die Green Men in Kirchen wären als unveränderte Überbleibsel vorchristlicher Religionen das inoffizielle Werk von Steinmetzen oder Holzschnitzern, die einem alten Vegetations- oder Fruchtbarkeitskult anhingen – quasi stumme Akte des Widerstands gegen das vorherrschende Christentum. Verbindungslinien wurden gezogen zu Wirtshausschildern und -namen (Abb. 6a): Allein in London gibt es 30 Pubs, die Green Man heißen. Die Deutung vom Grünen Mann als heidnisch-folkloristisches Motiv fand seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schnell Anklang und Verbreitung. Wesentlichen Anteil daran hatte Nikolaus Pevsner, aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Großbritannien emigrierter, einflussreicher Kunst- und Architekturhistoriker, der in seiner 46-bändigen Serie „The Buildings of England“ (1951-1974) Raglans Ausdruck verwendet. Der Green Man wurde zunehmend populärer, sei es als Sinnbild einer Einheit von Mensch und Natur – oder als Bieretikett (Abb. 6b).

Ein christianisiertes Motiv!

Wofür auch immer der Grüne Mann in Kirchen steht, eines kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden: Es handelt sich nicht um halbverborgene Geheimzeichen des Widerstands einer heidnischen Religion gegen ein als Konkurrenz empfundenes Christentum. Jede Kirche musste vom zuständigen Bischof oder dessen Vertreter geweiht werden und diese hätten mit Sicherheit keine Symbole anderer Religionen akzeptiert. Geheim und verborgen war der Grüne Mann nie, dagegen spricht die schiere Häufigkeit des Motivs, das landauf, landab in Westeuropa gut sichtbar in Kirchen Verwendung gefunden hat, die zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert entstanden sind. Wer einmal angefangen hat, danach Ausschau zu halten, findet zahllose Beispiele, die unmöglich jahrhundertelang von Stiftern, Baumeistern, Klerus und Gemeinden hätten übersehen oder in irgendeiner Form als anstößig empfunden werden können. Im Gegenteil, der Green Man wird heute von Kirchenverwaltungen als Sympathieträger und Fundraiser eingesetzt (Abb. 6c) und in kirchlichen Andenkenläden als Souvernir verkauft: Von Geringschätzung oder peinlich berührtem Totschweigen kann keine Rede sein.

Es handelt sich also um ein christianisiertes Zierelement und Symbol, das wie viele andere in den kirchlichen Bilderkosmos Eingang gefunden hat und zeit- und ortsabhängig sogar sehr beliebt war.

Die Ursprünge

Als Vorgänger der Grünen Männer in mittelalterlichen Kirchen sind die antiken Blattmasken bekannt. Nachdem bereits im Hellenismus Fabelwesen aus menschlichen, tierischen und pflanzlichen Teilen zusammengesetzt wurden, entstand in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. die eigentliche Blattmaske in der römischen Baukunst. Am Mittelrhein, so zum Beispiel am Mainzer Dom in der Rahmung des Bogenfelds am Marktportal (Abb. 7), sind sie direkte Entlehnungen aus provinzialrömischen Denkmälern.

Eine weitere Quelle können an entsprechenden Orten keltische, keltorömische oder angelsächsische Darstellungen von isolierten Köpfen sein (Abb. 8), die nachgeahmt und mit einer christlichen Bedeutung versehen wurden. Die Portale norwegischer Stabkirchen gehören in diese Kategorie (Abb. 9, 10).

Christentum und Kirchenbau sind nirgendwo im luftleeren Raum entstanden und haben von Anfang an vorgefundenes Material aus der Umgebung, also auch Bilder und Symbole, aufgegriffen und mit christlicher Bedeutung versehen – am Beginn des Johannesevangeliums ist darum von der Fleischwerdung des göttlichen Wortes die Rede: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14).

Als Ornament diente die antike Blattmaske vielfach der Verzierung. So wurde sie im christlichen Kontext zunächst in der klösterlichen Buchmalerei aufgegriffen und dann auch bald in der abendländischen Kirchenarchitektur und -ausstattung. Abbildungen in Manuskripten, die ebenso hochgeschätzt wie wertvoll waren, bildeten eine wichtige Inspirationsquelle für Stifter von Kirchen, v. a. in Frankreich und Deutschland. Es scheint so, als ob das Motiv des Green Man so seinen Weg von Buchillustrationen in die Kirchenarchitektur gefunden hätte. Die Normannen, die 1066 England eroberten, brachten es als ebenso dekoratives wie bedeutungsvolles Element dorthin mit (Abb. 12).

In der Romanik

In der Romanik wirken die Blattmasken oft furchteinflößend und erinnern an Dämonen (Abb. 11 und 14), oder sie haben den schreckerfüllten Ausdruck eines von Dämonen gequälten Menschen (Abb. 12): „Die Bedrohung [des Menschen] durch die dämonischen Mächte wird oft noch unterstrichen, wenn schlingende Ranken und Blätter von ‚giftigen‘ Pflanzen den Menschen verwickeln und überwuchern. Verwickelte oder verknotete Bänder haben [aber auch] abwehrende, bannende Bedeutung. Das Böse soll sich darin verwickeln und kein Durchkommen haben. Ornamentale, endlose, oft mäanderartige Bänder können Ewigkeit anzeigen, je nach Gestaltung und Zusammenhang den Himmel wie die Hölle“ (Fichtl – Abb. 13). In der Taufe erfolgt seit den Anfängen des Christentums die Absage an den Teufel und der Beginn des neuen Lebens im Glauben an den dreieinigen Gott – beides kann am Taufstein symbolisiert werden, auch mittels der Darstellung von Green Men inmitten anderer christlicher Symbole wie Adler und Hirsch (Abb. 14).

Bereits in der Romanik (Abb. 15), aber dann umso mehr in der Gotik (Abb. 16) sprossen Pflanzen vor allem aus dem Mund des Green Man. Dabei legt sich die Assoziation mit dem Wort Jesu nahe, der vom Bösen spricht, das aus dem Mund herauskommt und den Menschen unrein macht und in diesem Zusammenhang auch auf Pflanzen Bezug nimmt:

„Nicht was zum Mund hineingeht, macht den Menschen unrein; sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein. ... Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die werden ausgerissen. ... Versteht ihr nicht, dass alles, was zum Mund hineingeht, das geht in den Bauch und wird danach in die Grube ausgeleert? Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung. Das sind die Dinge, die den Menschen unrein machen.“ (Aus Mt 15,10-20)

In der Gotik

In der Gotik treten die Blattmasken bevorzugt als Schmuck von Konsolen (Abb. 17), Kapitellen (Abb. 18) und Gewölbeschlusssteinen (Abb. 19) auf und ebenso in den Schnitzereien in Chorgestühlen (Abb. 20). An diesen Stellen sind sie nicht auf Augenhöhe, sondern am Rand, bzw. in dienender Position – entweder für Engel- und Heiligenstatuen (Abb. 21a, 21b) oder als Lehn- und Sitzstützen (Miserikordien) für die Chorherren (Abb. 22) oder Mönche (Abb. 23). Die buchstäblich untergeordnete Stellung teilen sie mit anderen Darstellungen von Mächten des Bösen, was Rückschlüsse auf ihre Deutung zulässt: Sie stehen nicht wie die biblischen Darstellungen und die Heiligen im Fokus, sondern bilden die Umrahmung und gehören zur Bühne, auf der sich die Heilsgeschichte vom Wort Gottes abspielt (Abb. 7, 21).

In der französischen Kunst des frühen 13. Jahrhunderts entsteht auch die am ehesten menschenähnliche und gelassen blickende Form der Blattmaske (Abb. 24), die bereits um 1235 so verbreitet ist, dass Villard de Honnecourt sie in sein Bauhüttenbuch aufnimmt. Auch im deutschen und englischen Kirchenbau wird diese Form schnell aufgegriffen. Die Pflanzendarstellungen, die in der Romanik noch stilisiert waren, werden nun botanisch bestimmbar – die einzelnen Pflanzen sind oft Sinnbilder für bestimmte Eigenschaften, Tugenden und Laster. Beispiele sind das Schwarze Bilsenkraut, auch Hexenkraut genannt, zur Charakterisierung des Bösen oder Dämonischen (Abb. 26) und das Eichenlaub, das für Treue und Zuverlässigkeit steht (Abb. 16, 25). Aber das Eingebundensein von Menschengesichtern in Blätter und Pflanzen kann auch ganz allgemein auf die Natur des Menschen als sterbliches Wesen deuten: „Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen; aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,6-8 / 1. Petr 1,24-25).

Im 16. und 17. Jahrhundert

In der Renaissance wird dann das Gesicht kaum mehr in Pflanzenform aufgelöst, sondern die Maske klassischer Prägung wird nur mehr von Laubwerk umrahmt. Die Reformation führt zu einer doppelten Reaktion: Der protestantischen Gleichgültigkeit und Ablehnung von Bildern in Kirchen, die bis hin zu gewaltsamen Bilderstürmen reicht, steht die bewusst eingesetzte Bildersprache, der Figurenreichtum und die Prachtentfaltung in katholischen Kirchen entgegen (Abb. 27). Dort spielt der Green Man darum auch im 16. und 17. Jahrhundert nochmals eine gewisse Rolle: Es treten insgesamt eher seine grotesken, maskenhaften Züge hervor (Abb. 28), die jedoch auch in den Vorgängerepochen schon nachweisbar sind.

Eine alle Epochen und Orte umfassende Deutung der Blattmasken in Kirchen lässt sich nicht abschließend ermitteln, da im Unterschied zu vielen anderen christlichen Symbolen (v. a. Tieren und Pflanzen) literarische Quellen dafür fehlen. Die Grünen Männer sind jedoch ein fester Bestandteil christlicher Ikonographie. Gerade auch, weil sie bis heute rätselhaft bleiben (Abb. 29), bieten sie beim Kirchenbesuchen immer wieder Anlass zum Schmunzeln, Staunen und Meditieren der alten Frage „Was ist der Mensch?“

TuK Bassler, August 2019

Zuletzt geändert 12.09.2022

Quellen

Basford, Kathleen, The Green Man, D. S. Brewer, Rochester 1978

de Honnecourt, Villard, Sketchbook of Villard de Honnecourt (about 1230), MS. 19093 French Collection, Bibliothèque Nationale, Paris, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10509412z.r=villard%20de%20honnecourt, abgerufen 20.08.2019

Dinzelbacher, Peter: Köpfe und Masken. Spätmittelalterliche Bauplastik an mittelalterlichen Kirchen, Salzburg 2014

Fichtl, Friedemann, Der Teufel sitzt im Chorgestühl. Entdeckungen in alten Kirchen, Verlag am Eschbach, Eschbach 2009.

Greene King Brewing and Retailing Limited, https://www.greeneking-pubs.co.uk/discover/historic-pubs/the-green-man/, abgerufen 09.05.2020

Hayman, Richard, The Green Man, Shire Publications, Oxford 2010

Jäger, Traugott, Von Steinen, die Dämonen abwehren, und von anderen, die predigen. Reliefs im Kloster Maulbronn - ihrer Bedeutung auf der Spur, Vaihingen/Enz 2001

Keller, Harald, Blattmaske, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. II (1941), Sp. 867–874; in: RDK Labor, http://www.rdklabor.de/w/?oldid=88896, abgerufen 14.08.2019

Livingstone, Josephine, The Remarkable Persistence Of The Green Man, The New Yorker, 07.03.2016, https://www.newyorker.com/books/page-turner/the-remarkable-persistence-of-the-green-man, abgerufen 14.08.2019

Raglan, Julia, The “Green Man” in Church Architecture, Folklore, 50:1,45-57, https://doi.org/10.1080/0015587X.1939.9718148, abgerufen 14.08.2019

Von Lüpke, Geseko, Der Grüne Mann Eine verborgene Figur im Christentum, https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/lebenszeichen/der-gruene-mann-100.html, abgerufen 12.09.2022

 

 

Abb. 1: Hoher Dom St. Marien, Erfurt (D), Schlussstein im Chorhals
Abb. 2: Klosterkirche, Kappel am Albis (CH), Chorgestühl
Abb. 3: Eglwys y Santes Fair/St Mary’s Church, Conwy (GB), moderner Wandschirm
Abb. 4: Saint-Philibert, Tournus (F), Kapitell in der Vierung
Abb. 5: Norwich Cathedral (GB), Schlussstein im Kreuzgang
Abb. 6a: Wirtshausschild in Edinburgh
Abb. 6b: Bieretikett (GB)
Abb 6c: York Minster (GB), Green Man als Spendenwerber
Abb. 7: Hoher Dom St. Martin zu Mainz (D), Tympanon über dem Marktportal
Abb. 8: Römische Bäder, Bath (GB), Gorgonenkopf
Abb. 9: Stavkirke fra Gol (Norsk Folkemuseum), Oslo (N), Südportal
Abb. 10: Stavkirke fra Gol (Norsk Folkemuseum), Oslo (N), Südportal
Abb. 11: St. Peter und Paul, Rheinmünster-Schwarzach (D), Würfelkapitell an der Arkade zum südlichen Seitenschiff
Abb. 12: St Michael and All Angels, Bishop’s Cleeve (GB), normannisches Portal
Abb. 13: Cathédrale Notre-Dame, Strasbourg (F), Buntglasfenster (im Museum)
Abb. 14: Brecon Cathedral/Eglwys Gadeiriol Aberhonddu (GB), Taufbecken
Abb. 15: Ancienne Cathédrale Saint-Trophime, Arles (F), Kapitell im Kreuzgang
Abb. 16: Stiftskirche Sankt Marien, Herrenberg, Südportal
Abb. 17: Basler Münster (CH), Westfassade
Abb. 18: Dom St. Petrus, Osnabrück (D), Kapitell
Abb. 19: Norwich Cathedral (GB), Schlussstein im Kreuzgang
Abb. 20: St Margaret of Antioch, Cley next the Sea (GB), Chorgestühl
Abb. 21a: Sint-Baafskathedraal, Gent (B), Tympanon Seitenportal
Abb. 21b: Dom, Halberstadt, Figuren rechts und links des Durchgangs zur Scheitelkapelle
Abb. 22: Amanduskirche, Bad Urach (D), Miserikordie im Chorgestühl
Abb. 23: Norwich Cathedral (GB), Chorgestühl
Abb. 24: Cathédrale de Bayeux (F), Fries an der Südwand des Hauptschiffs
Abb. 25: Klosterkirche, Kappel am Albis (CH), Chorgestühl
Abb. 26: Kloster Maulbronn, Kreuzgang, Verwendung nur mit schriftlicher Genehmigung der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg
Abb. 27: Saint-Germain, Pleyben (F), Dachgebälk
Abb. 28: Saint-Sauveur, Caen (F), Außenseite des Renaissance-Chors
Abb. 29: St Asaph Cathedral/Cadeirlan Llanelwy (GB), Chorgestühl
 
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TuK Bassler
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