Nachkriegskirchen aus Beton

Beton - es kommt drauf an, was man draus macht

Beton hat anders als Sandstein oder Holz "keine Natur, er wird nicht abgebaut, er wächst nicht, er kommt nicht vor. Erst eine Mischung aus Kies, Wasser und Zement lässt ihn entstehen. Ein Bauwerk aus Beton ist ein Monument der Machbarkeit schlechthin. ... Doch wie das komplexeste aller Medien, das Geld, hat Beton in sich eine Eigenschaft, die ihm einen Charakter gibt und darin seinerseits auch eine inspirierende Herausforderung ist: Beton ist wandelbar, bewegt und fließend. Der Charakter des Betons liegt in seiner Charakterlosigkeit," schreibt der Kunsthistoriker Jörg Probst.

Insofern ist es kein Zufall, dass Beton der vorherrschende Baustoff vieler Kirchenneubauten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist – einer Zeit, die gleichzeitig von Verunsicherung und Aufbauwillen geprägt war. Der Neuanfang nach dem Krieg in Kirche und Gesellschaft wurde vielfach ambivalent empfunden. Einerseits war er begleitet von einem "Gefühl der geistigen Heimat- und Orientierungslosigkeit, des Substanz- und Traditionsverlusts" (Wittmann-Englert, 2006). Andererseits bekamen gestalterische Freiheit und die Lust am Experiment Raum. Beton, der fluide, der "charakterlose" Baustoff ohne Wurzeln und ohne Herkunft ermöglichte und erforderte diese neue konstruktive Freiheit in bisher nicht gekannter Form.

Beton war und ist umstritten. In Begriffen wie "Zubetonieren" und "Betonwüste" steht er für seenlose Städte sowie inhumane und naturferne Architektur; der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sprach 1965 von der "Unwirtlichkeit unserer Städte". Er gilt als roh, primitiv und brutal – letzteres abgeleitet vom Architekturstil "Brutalismus", dessen bevorzugter Werkstoff Sichtbeton (frz. "béton brut") ist. Das Wort "brut" bedeutet jedoch auch rau, herb und ehrlich; es steht bewusst für den Bruch mit den Traditionen, die zu zwei Weltkriegen, Nationalsozialismus und totalitären Regimen geführt haben. Nicht selten geht die Ablehnung von Beton einher mit einer Ablehnung dieses radikalen Bruchs.

Betonkirchen - Zelt und Bunker Gottes

Es war der Kirchenbau, dem es gelang, den Widerständen gegen das Baumaterial Beton etwas entgegenzusetzen – immerhin wurden in den Jahren zwischen 1945 und 1980 allein in Baden-Württemberg 1600 neue Kirchen gebaut (das entspricht einem Drittel aller im Land vorhandenen Kirchen!), und nicht wenige davon aus Beton. Gerade das Schmucklose und Elementare wurde dabei als wahrhaftig wahrgenommen, als Ausdruck einer neuen Demut der Kirchen, die es ernst meinen damit, "Kirche für andere" (Dietrich Bonhoeffer) und "wanderndes Gottesvolk" (II. Vatikanisches Konzil) zu sein. Betonkirchen der Nachkriegszeit geben Zeugnis von dieser Idee des Unterwegsseins der Kirche in Richtung auf den anderen Menschen, den Nächsten in der Gegenwart und auf Gott.

Das gilt in erster Linie für die zu Recht berühmteste aller Betonkirchen, die Chapelle Notre-Dame du Haut aus dem Jahr 1955: "Le Corbusier nannte die Kapelle eine Arche. Andere sprachen von einem Schiff Petri, von einem Zelt Gottes, von einem Zelt Mariens, wieder andere von einer Grotte. Das eine Bild widerspricht nicht den anderen. Arche und Schiff, Zelt und Höhle sind Quartiere des Menschen auf der Wanderschaft und Zuflucht in unbehauster, ungewisser Zeit. Höhle und Zelt, Arche und Schiff durchdringen sich in diesem Kirchenraum zu der Einheit, die sie in letzter Bedeutung sind," schreibt Anton Henze 1956 in einer Beschreibung von Le Corbusiers erstem Kirchenbau.

1960 diskutierte Hans F. Erb die Rolle des Betons im Kirchenbau in einem programmatischem Beitrag mit dem Titel "Zelt und Bunker Gottes". Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamp war für Erb vor allem ein Betonbunker – wobei Bunker für die Generation, die den Krieg in solchen Bunkern überlebt hatte, einen weitaus positiveren Klang hatte als heute. Erb schreibt: "Bunker baut man aus Beton. Man verzichtet auf glänzende Fassaden." Eine Kirche aus Beton ist immer auch ein Schutzraum, ein "Zufluchtsort, demutsvoll, improvisiert, einfach, ungekünstelt und vor allem: sicher"

Beton und Licht – Öffnung zur Welt

Die Besonderheit der Kapelle in Ronchamp geht jedoch darüber hinaus. Nicht umsonst wird sie auch "Kapelle des Lichts" genannt. Beton als Baustoff ermöglicht ganz neue und originelle Lichtführungen, z. B. Lichtbänder zwischen Dach und Decke, indirekte Beleuchtung von oben und Betonglastechnik. Durch entsprechende Öffnungen kann Licht wie in Ronchamp so zu einem eigenständigen "Baustoff" werden. Das Bauen mit Beton kann Geborgenheit und Schutz mit Leichtigkeit und unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten verbinden.

Neben dem Kirchenverständnis Bonhoeffers war es vor allem das von Papst Johannes XXIII. einberufene II. Vatikanische Konzil (1962-1965), das unter dem Begriff vom "Aggiornamento", also der Öffnung der Kirche hin zur modernen Welt, umfangreiche Reformen der katholischen Kirche einleitete. Die Aufwertung der Gemeinde fand u.a. ihren Ausdruck in Gottesdiensten in der Muttersprache in neugestalteten Kircheninnenräumen: Der Priester steht der Gemeinde zugewandt hinter einem in Richtung Gemeinde gerückten Altar.

Das Baumaterial Beton im Kirchenbau ist in vielerlei Hinsicht kennzeichnend für die Öffnung der Kirchen gegenüber der Moderne und Ausdruck eines Neuanfangs nach Krieg und Totalitarismus. Dass Beton diese Bedeutung gewinnen konnte, ist sicherlich auch der Tatsache zu verdanken, dass es eine kostengünstige Verschmelzung von Material, Bau- und Kunstwerken ermöglicht. Insgesamt konnte Beton so die Grundlage dafür werden, "eine neue Zeit fast aus dem Nichts zu formen." Das Konzept eines Ortes der Zuflucht und Andacht, der dennoch nicht abgeschlossen ist zur Welt, und der Anspruch, mit schlichten, aber sorgfältig gewählten Mitteln ein modernes Gesamtkunstwerk zu schaffen, wurden in vielen Kirchen und Gemeindezentren umgesetzt. Beispiele von Architekten wie Egon Eiermann, Ernst Gisel und Heinz Rall finden sich in Visit-a-Church.

 

TuK Bassler, Visit-a-Church.info

Quellen

TuK Bassler, Hg. Evangelische Kirchengemeinde Plieningen-Hohenheim: Gemeindezentrum Hohenheim, Stuttgart 2017.

Yves Bouvier und Christophe Cousin: Ronchamp – Eine Kapelle des Lichts, Canopé Editions, Besançon 2015.

Deutsches Liturgisches Institut Trier: Straße der Moderne. Kirchen in Deutschland, http://www.strasse-der-moderne.de/, abgerufen 16.02.2020.

EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, Hg. Thomas Erne/Jörg Probst: KBI 05. Beton - Material und Idee im Kirchenbau, Marburg 2014.

Kerstin Wittmann-Englert: Zelt, Schiff und Wohnung - Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg im Allgäu 2006.

Regierungspräsidium Stuttgart, Landesamt für Denkmalpflege (Hg.): Gotteszelt und Großskulptur. Kirchenbau der Nachkriegsmoderne in Baden-Württemberg, Arbeitsheft 38, Esslingen 2019.

Notre-Dame du Haut, Ronchamp (1955, Le Corbusier)
Notre-Dame du Haut, Ronchamp (1955, Le Corbusier)
Notre-Dame du Haut, Ronchamp (1955, Le Corbusier)
Notre-Dame du Haut, Ronchamp (1955, Le Corbusier)
Santa María Reina, Lima (1953)
Christuskirche, Sindelfingen (1959, Heinz Rall)
Bruder-Klaus-Kirche, Basel (1961, Karl Higi)
Coventry Cathedral (1962, Basil Spence)
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Berlin (1962, Egon Eiermann)
St. Antonius, Stuttgart (1962, Hariolf Bahle)
Mischelikirche, Reinach (1963, Ernst Gisel)
Église Protestante Unie, Martigues (1964, Pierre Monheim)
Tituskirche, Basel (1964, Benedikt Huber)
Versöhnungskirche, Leonberg (1965, Heinz Rall)
Sonnenbergkirche, Stuttgart (1966, Ernst Gisel)
Gemeindezentrum Hohenheim, Stuttgart (1967, Heinz Rall)
„Rote Kapelle“, Lassalle-Haus, Edlibach (1968, André M. Studer)
Markuskirche, Freiburg (1968, Gottfried Einwächter)
Autobahnkirche St. Christophorus, Baden-Baden (1978, Emil Wachter)
 
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TuK Bassler
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