100. Geburtstag 2020: Der Kirchenarchitekt Heinz Rall

Heinz Rall (Quelle: Wikipedia/Heinz Rall 2001, CC-BY-SA 3.0 DE)
Grab von Heinz Rall, Friedhof Güglingen

Geboren am 28. September 1920 in Stuttgart wur­de Heinz Rall in der 1898 ein­ge­weih­ten neo­go­ti­schen Pau­lus­kir­che ge­tauft und kon­fir­miert. 1944 und 1945 wur­de die Kir­che durch Luft­an­grif­fe vollstän­dig zer­stört (und später von 1956 bis 1961 durch Rall neu er­rich­tet). Nach dem Abi­tur war er von 1939 an Luft­waf­fen­pi­lot und flog ge­mein­sam mit sei­nem Schul­freund und spä­te­ren Part­ner, Hans Röper (1921–2014), von 1942 bis 1945 zahl­rei­che An­grif­fe, um Städ­te und feind­li­che Stütz­punk­te in Schutt und Asche zu le­gen. Sein Ent­schluss, als Ar­chi­tekt we­nigs­tens et­was zum Wie­der­auf­bau bei­zu­tragen, wuchs nach der ur­sprüng­li­chen Be­geis­te­rung für das na­ti­o­nal­so­zi­a­lis­ti­sche Re­gi­me in den letz­ten Kriegs­ta­gen.

Von 1947 bis 1953 stu­dier­te er zu­sam­men mit Hans Röper bei Hans Vol­kart und Rolf Gut­brod – bei­de Schü­ler von Paul Bon­atz – in Stutt­gart an der Tech­ni­schen Hoch­schu­le und schloss das Stu­di­um als Ar­chi­tekt und Di­plom­in­ge­nieur ab. Ab 1950 arbeitete er bei Hans Volkart im Büro mit. 1953 be­grün­de­te er gemein­sam mit Hans Röper ein Ar­chi­tek­tur­bü­ro in Stutt­gart, 1960 eröffnete er sein eigenes Büro und firmierte als „Rall und Part­ner“. 1987 zog er mit sei­ner Le­bens­part­ne­rin und spä­te­ren Frau, der Künst­le­rin Ur­su­la Stock, nach Güg­lin­gen. Dort hat­te er aus­ge­hend vom Um­bau der Mau­ri­ti­us­kir­che (1976/77) eine kom­plet­te Stadt­kern­sa­nie­rung durch­ge­führt und en­ga­gier­te sich für zahl­rei­che künst­le­ri­sche und ar­chi­tek­to­ni­sche Be­lan­ge der Stadt, u. a. den Auf­bau des Rö­mer­mu­se­ums Güg­lin­gen. Heinz Rall starb im Al­ter von knapp 86 Jah­ren am 29. August 2006 in Güg­lin­gen und wur­de dort be­stat­tet.

Ein bedeu­ten­der Schwer­punkt sei­nes Werks wa­ren Kir­chen­bau­ten. Al­lein 20 evan­ge­li­sche Kir­chen ent­warf und er­rich­te­te er zwi­schen 1956 und 1969 ge­mein­sam mit sei­nen Part­nern; unter Denkmalschutz stehen die Paul-Gerhardt-Kirche in Böblingen, die Versöhnungskirche in Leonberg und die Kreuzkirche in Ludwigsburg. Ralls Büro ge­wann v.a. im Bereich der württembergischen Landeskirche so vie­le Wett­be­wer­be, dass man­che sei­ner Kol­le­gen wit­zel­ten: „Kla­rer Fall, Je­sus Rall“ (Ohnewald). Die Kir­che in der städ­ti­schen Wohn- bzw. Neu­bau­sied­lung be­trach­te­te Rall als wich­tigs­te Kir­chen­bau­auf­ga­be sei­ner Zeit und den Kir­chen­bau ins­ge­samt emp­fand er als eine der „schöns­ten, aber auch um­strit­tens­ten He­raus­for­de­run­gen für ei­nen Ar­chi­tek­ten“. Baden-Württemberg nahm bis 1961 etwa 1,6 Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge auf, dazu kam der allgemeine Bevölkerungsanstieg, so dass ungefähr 1600 neue Kirchen zwischen 1945 und 1980 im Land errichtet wurden.

Er vertrat eine klare Abkehr von traditionellen kirchenbaulichen Raumlösungen wie sie vielerorts bis weit in die 1960er Jahre zu finden waren. Die streng axiale Ausrichtung der Gemeinde auf die deutlich erhöhten und fest montierten Prinzipalstücke Altar und Kanzel lehnte er ab und bevorzugte konzentrische Raumvorstellungen mit flexibel kombinierbarem Gestühl. Es war Ralls erklärtes Programm, einem vielfältigen Gemeindeleben und neuen, auch experimentellen Gottesdienstformen Raum zu geben: „Der Wandel von der Sonntagskirche zur Alltagskirche drückt sich auch in der baulichen Gestaltung aus,“ nicht selten auch durch die enge Einbeziehung des Gottesdienstraumes in ein Gemeindezentrum. Bei al­ler Be­to­nung der Va­ri­a­bi­li­tät sei­ner Kir­chen­räu­me war Rall jedoch kein Ver­tre­ter von All­zweck­räu­men, wie von Werner Simpfendörfer in Bad Boll propagiert. „Was wir … nicht woll­ten, war die Be­lie­big­keit ei­nes Kir­chen­rau­mes, der so­ge­nann­te Mul­ti­funk­ti­ons­raum, der für Ver­an­stal­tun­gen al­ler Art ge­eig­net sein soll­te.“ Schon 1959 mach­te er deut­lich, dass sein Ar­chi­tek­tur­bü­ro „trotz al­ler Ab­leh­nung ei­nes pseu­do­sak­ra­len Sti­les“ Kir­chen baut, bei de­nen „je­der er­ken­nen kann: das ist ein Got­tes­haus. Kei­ne nach­träg­lich auf­ge­setz­ten Sym­bo­le soll­ten aus ei­nem Zweck­bau eine Kir­che ma­chen.“

Wenn es nicht traditionelle, christ­li­che Sym­bo­le und bib­li­sche Fi­gu­ren sind, die ein Haus zu ei­nem Got­tes­haus ma­chen, dann muss des­sen Be­son­der­heit durch an­de­re Mit­tel er­reicht wer­den. Rall und sei­ne Part­ner nutz­ten da­für vor al­lem drei An­sät­ze:

   Ein­fach­heit, Ein­heit­lich­keit und Ruhe in For­men, Far­ben und Ma­te­ri­a­li­en.

   Ei­nen Schwer­punkt auf die kon­struk­ti­ve Aus­bil­dung von Raum­de­cken, Wän­den und Licht­ein­fall.

   Or­ga­ni­sche In­teg­ra­ti­on von Bil­dern und Plas­ti­ken, die durch in­ten­si­ve Zu­sam­men­ar­beit mit mo­der­nen Künst­lern er­reicht wird.

In Bezug auf seine eigenen Kirchenbauten schreibt Rall 2001 rückblickend: „Die Kirchen der Nachkriegszeit sind oftmals karg und spröde - aber sie sind der Spiegel einer Zeitepoche. ... Was ihnen nicht gut anstünde sind Veränderungen, die die Klarheit und die Kraft des Raumes schmälern und eine ,Verschönerung‘ durch nachträgliche dekorative Ausschmückung.“

 

TuK Bassler, Visit-a-Church.info (2017)

Zuletzt geändert 16.02.2020

 

 

Rall-Kirchen in Visit-a-Church

Christuskirche, Sindelfingen (1959)
Stephanuskirche, Stuttgart-Bad Cannstatt (1960)
Pauluskirche, Stuttgart-West (1961)
Paul-Gerhardt-Kirche, Böblingen (1961)
Matthäuskirche, Backnang (1962)
Johanneskirche, Sindelfingen (1963)
Christuskirche, Esslingen-Zollberg (1963)
Kreuzkirche, Ludwigsburg-Schlösslesfeld (1964)
Versöhnungskirche, Leonberg-Ramtel (1965)
Versöhnungskirche, Calw-Heumaden (1965)
Gemeindezentrum Sommerrain, Stuttgart-Sommerrain (1966)
Jakob-Andreä-Kirche, Göppingen-Jebenhausen (1966)
Auferstehungskirche, Tuttlingen (1966)
Auferstehungskirche, Ulm-Böfingen (1966)
Paul-Gerhardt-Kirche, Plochingen-Stumpfenhof (1966)
Versöhnungskirche, Sindelfingen-Goldberg (1967)
Gemeindezentrum Hohenheim, Stuttgart-Steckfeld (1967)
Gartenstadtkirche, Stuttgart-Luginsland (1969)
Mauritiuskirche, Güglingen (Umbau 1976/77)
Aussegnungshalle, Friedhof Güglingen (Umbau 1985)

Literatur

De Gennaro, Enrico (Hg.): Heinz Rall - Kirchenbauten. Fotografien von Rose Hajdu, Schriftenreihe des Römermuseums Güglingen, 2020.

Gräf, Ulrich, Reinhard Lambert-Auer (Hg.): 25 Jahre evangelischer Kirchenbau RALL und PARTNER 1955 – 1980, Verein für Kirche und Kunst in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 2001.

Ludwig, Matthias: Leonberg-Ramtel. Ev. Versöhnungskirche, http://www.strasse-der-moderne.de/portfolio/leonberg-ramtel-ev-versoehnungskirche/, abgerufen 16.02.2020.

Ohnewald, Michael: Der Architekt – Mit dem Mut zur Größe, Stuttgarter Zeitung, 11.04.2006.

Rall, Heinz: Güglingen – Erneuerung einer Stadt, Forum Verlag, Stuttgart 1995.

Rall, Heinz: Historische Kirchen im Zabergäu und Umgebung, Forum Verlag, Stuttgart 2003.

Rall, Heinz: Vorgestern über dem tunesischen Bergland abgeschossen … Ein Zeitzeuge erinnert sich, Wachter Verlag, Heidelberg 2004.

Regierungspräsidium Stuttgart, Landesamt für Denkmalpflege (Hg.): Gotteszelt und Großskulptur. Kirchenbau der Nachkriegsmoderne in Baden-Württemberg, Arbeitsheft 38, Esslingen 2019.

Simpfendörfer, Werner: Profanität und Provisorium, in: Bahr, Hans-Eckehard (Hg.), Kirchen in nachsakraler Zeit, Hamburg 1968.

TuK Bassler, Gemeindezentrum Hohenheim, Ev. Kirchengemeinde Plieningen-Hohenheim, Stuttgart 2017.

Wikipedia: Heinz Rall, https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Rall, abgerufen 07.05.2017.

Wittmann-Englert, Kerstin: Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg im Allgäu 2006.

 
© 2021
TuK Bassler
CC-BY-SA 4.0